Filmemacher Rasmus Gerlach zog sich bei den Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm einen Rippenbruch zu, als er von einem Polizisten grob beiseite gestellt wurde. Er wollte die Verletzung melden und stellte fest, dass die Stadt Hamburg nur die Zahl der verletzten Polizisten meldete – die verletzten Demonstranten aber geflissentlich verschwieg.
Rene Martens über den Film „Der Gipfel – Performing G20“:
2015 hat sich Rasmus Gerlach in seinem Film „Gefahrengebiete & andere Hamburgensien“ bereits intensiv mit Polizeigewalt auseinandergesetzt. Es liegt daher nahe, dass der Regisseur in seinem neuen Dokumentarfilms „Der Gipfel - Performing G20“ daran anknüpft - und dabei viele Fragen rund um die Polizeiaktionen beim G20 verhandelt, die die Öffentlichkeit seit den Protesten diskutiert. Aber: In den Blickpunkt gerückt werden andere Themen. Mit „Der Gipfel - Performing G20“ holt Gerlach zentrale Momente der Aktions- und Performancekunst, die Teil des Protests waren, wieder in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zurück beziehungsweise macht sie für manche Zuschauer erstmals sichtbar.
Die heimlichen Heldinnen von „Der Gipfel - Performing G20“ sind die Mitgliederinnen einer Gruppierung namens Megafonchor. Der Megafonchor versucht seit einigen Jahren, in öffentliche Prozesse mit teils choreographierten, teils improvisiert wirkenden künstlerisch einzugreifen, indem er das Megafon, ein Standardaccessoire des politischen Protests auf der Straße, auf neuartige Weise nutzt. In „Der Gipfel - Performing G20“ begegnen wir dem Chor immer wieder in verschiedenen Besetzungen an verschiedenen Orten des Protests, etwa, wenn sie sich in der Nähe des Hauptbahnhofs zu einer Art Soundskulptur formieren.
Eine besondere akustische und zudem ausgesprochen geschichtsbewusste Aktion greift Gerlach anhand eines Berichts eines amerikanischen Senders auf: Protestler spielten auf einer Barkasse auf der Elbe Jimi Hendrix‘ Version des „Star Spangled Banner“ - und konfrontierten die Politiker mit diesem ikonischen Musikstück der Gegenkultur, als sie die Elbphilharmonie betraten.
Apropos Musik: Zu Gerlachs Interviewpartnerinnen gehört die Performance-Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson, die wenige Tage nach dem Gipfel in Hamburg zu Gast ist. Gerlach spricht mit Anderson über das Bild, das sie sich über die Medien vom Gipfel gemacht hat - und schlägt von ihr den Bogen zu einem der eindrucksvollsten Videos, das während des G20 entstanden ist: Aktivisten hatten brutale Polizeiaktionen zusammengeschnitten und das schaurige Gewaltpotpourri mit „Perfect Day“ untermalt, einem der bekanntesten Songs von Andersons verstorbenen Ehemann Lou Reed.
Den optisch nachhaltigsten Eindruck hinterlässt beim Zuschauer von Gerlachs Film die apokalyptische Assoziationen weckende Performance der Gruppierung „1000 Gestalten“. Als Schauplatz für ihre neuartige Form der Demonstration wählten die Aktivisten, die teilweise aus der Gängeviertel-Szene stammen, das Kontorhausviertel in der Innenstadt. Grau geschminkt und mit grauer Kleidung bewegten sie sich zombie-ähnlich durch die Straßen, um das zombiehafte Verhalten zu illustrieren, das „wir“ als Gesellschaft an den Tag legen.
Die berühmteste Performance-ähnliche Aktion lieferte indes eine Einzelperson. Gerlach greift sie gleich zu Beginn des Films auf: Eine Frau war am ersten Tag des Gipfels auf einen Räumpanzer geklettert, die im verharmlosenden Polizeijargon Sonderwagen heißen. Polizisten traktierten sie aus nächster Nähe mit Pfefferspray und Wasserwerfern. Die Bilder dieser Aktion haben wir unter anderem einem Mann zu verdanken, der das Geschehen von seinem Balkon aus live ins Netz streamt. Man hört ihn auch kurz sagen: „Falls jemand vom NDR zuguckt: Ihr seid direkt um die Ecke.“ Mithilfe dieser Aufnahmen eines Privatmannes stellt Gerlach gleich eine Frage in den Raum, die im Laufe des Films immer wieder zumindest anklingt: Wie verändert sich der Status professioneller Filmemacher dadurch, dass jedermann die Möglichkeit, bewegte Bilder zu produzieren und zu verbreiten?
Auch in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt setzt Gerlach teilweise andere Akzente. Beispiel: die „Welcome to Hell“-Demo, bei der sein Team mit fünf Kameras zum Teil des Geschehens – und unter anderem filmte, wie die Polizei die Demonstranten zwischen Fischmarkt und Landungsbrücken die Flutmauer zur Elbe hochjagte. „Wichtig ist uns, die Bilder als politisch motivierte Inszenierungen zu begreifen. Die Bildpolitiken werden hier von handgreiflichen politischen Interessen bestimmt“, sagt Gerlach. Es gehe „nur noch am Rande darum, wer die Straße beherrscht“, es geht vielmehr darum, Bilder zu produzieren, die im Internet eine gewünschte Wirkung hinterlassen. Andernorts - als in Altona Autos in Brand gesetzt und im Schanzenviertel Geschäfte geplündert wurden - erweckte die Polizei ja mindestens den Eindruck, dass sie kein Interesse daran hatte, die Straße zu beherrschen.
Im Off-Text nimmt Gerlach unter anderem Bezug auf den Vorgängerfilm „Gefahrengebiete & andere Hamburgensien“. „Um die Eskalation beim G20-Gipfel verstehen zu können, hilft ein Blick in die Gefahrengebiete-Geschichte“, meint er. Hintergrund: Ende 2013 überlagerten sich drei Hamburger Konflikte – der Kampf um die Rote Flora, jener um das Bleiberecht der Lampedusa-Flüchtlinge und der Protest gegen den Abriss der Esso-Hochhäuser. Als Antwort auf den Verlust von Autorität auf St. Pauli richtet die Hamburger Polizei zusätzliche Gefahrengebiete ein. Anfang 2017 wurden die Gefahrengebiete in Gefährliche Orte umbenannt. Sie blieben aber weiter bestehen - und wurden beim G20-Gipfel zur roten, gelben und blauen Zone.
Rasmus Gerlach versteht sich selbst durchaus als Teil der Protestbewegung - was beispielsweise deutlich wird in aus einer anderen G20-Dokumentation („Stimmen aus dem Off“) stammenden Interviews mit ihm, die er für seinen eigenen Film verwendet hat. Ein Kniff, den er auf ähnliche Weise auch in „Gefahrengebiete & andere Hamburgensien“ genutzt hatte, um sich als Teil des Geschehens ins Spiel zu bringen.
Das Bild, das sich der Öffentlichkeit von den Anti-G20-Protesten im Juli 2017 eingeprägt hat, war bisher tendenziell unvollständig.
Rasmus Gerlach ist nun ein Film gelungen, der der Komplexität der Ereignisse gerecht wird. Er selbst sagt: „Ob der Gipfel als Erfolg oder Niederlage betrachtet wird, hängt davon ab, an welcher Demonstration man teilgenommen hat.“